Der Begriff Qualitätsjournalismus ist für viele Mitglieder der schreibenden Zunft durchaus identitätsspendend. Für andere Kollegen ist er der Inbegriff einer veralteten Berufsanschauung. Die Wahrheit über die Umsetzbarkeit der zugrundeliegenden Dogmen liegt wohl dazwischen. Der zweite Teil des Blogbeitrags zum Thema Wertigkeit in der Schreibe dreht sich um eine mögliche neue Sicht auf die Welt des Qualitätsjournalismus.
Wer bewertet denn da?
Wenn wir nur zum Spaß einmal davon ausgehen, dass sich unsere persönliche Realität zum großen Teil aus dem speist, was unser Sinnes-Apparat einfangen kann, dann bauen wir uns wohl die Welt buchstäblich, wie sie uns gefällt. In unserem kognitiven Supercomputer „Großhirnrinde“, der uns Menschen laut wissenschaftlicher Studien so eindrucksvoll vom Tier unterscheidet, wohnen unter anderem Vernunft und Verstand. Und genau dort wälzen wir die komplexe Fragestellungen, die uns bei der täglichen Arbeit bzw. Recherche als Redakteure, Journalisten, Berater beschäftigen. Dieser Großrechner verknüpft einen riesigen Haufen an Daten und analysiert die Optionen – jedoch ohne je eine wirkliche Entscheidung zu fällen. Dieses Vorrecht haben die „limbische Zentren“ – ein Bewertungssystem, das zu einem sehr großen Teil in unserem Unterbewusstsein wohnt – ein Ort, an dem ein so unfassbar großer Teil der eigehenden Sinneseindrücke gespeichert wird, dass unser Bewusstsein auf die Bedeutung einer Erbse schrumpft.
Aus dieser Black-Box an unbewussten Erfahrungen und Gefühlen kommt der Entscheidungs-Trigger. Egal um welche Handlungsentscheidung oder Bewertung es geht, das limbische System hat immer das letzte Wort. Konsequent darauf gebürstet, Freude zu steigern und Leid zu vermeiden, durchforstet es seinen Megaspeicher nach vergleichbaren Erfahrungen und Situationen der Vergangenheit und prüft, ob die damaligen Geschehnisse positive oder negative Gefühlsspuren hinterlassen haben. Diese Analyse wird dann an unsere Großhirnrinde verschickt, die daraufhin seine Entscheidung trifft. Wir halten fest: Wenn wir denken, wir würden etwas bewusst, objektiv, sachlich und dogmen-konform entscheiden, dann ist das ein Irrtum! Der Archivar unseres Unterbewusstseins hat die Befehlsgewalt.
Schneller als der Denkschall
Es kommt noch besser. Das limbische System arbeitet schneller als unser Bewusstseinsapparat. Noch bevor wir einen Sachverhalt in unserem „Denkhirn“ bewusst wälzen, hat unser Unterbewusstsein bereits die Hand im Spiel. Ein wissenschaftliches Experiment hat gezeigt, dass 350 Millisekunden bevor wir eine bewusste Entscheidung treffen, unser limbisches System bereits seine Trigger „abfeuert“. Das bedeutet: „Wir haben uns bereits entschieden, bevor wir es in unserem „Denkhirn“ bemerken. (Neuropsychologe, Volker Lange).
Biologe und Hirnforscher Gerhard Roth sagt dazu: „Der Willensakt tritt in der Tat ein, nachdem das Gehirn bereits entschieden hat … Das Bewusstsein kann nicht mehr als die entscheidende Grundlage des Handelns angesehen werden. Vernunft und Verstand sind vielmehr eingebettet in die emotionale Natur des Menschen“
Wir halten fest: So sehr sich auch das Denkhirn anstrengt, meine schwarze Box hat immer schon den Fuß in der Entscheidungstüre, lange bevor ich die Klinke erreiche.
Ist der Qualitätsjournalismus verloren?
Schauen wir unter diesen Voraussetzungen nochmals auf die sieben Kriterien für den sogenannten Qualitätsjournalismus:
- Wahrhaftigkeit – also das Streben nach Wahrheit
- Sorgfalt bei Recherche und Dokumentation
- Sachlichkeit bei der Berichterstattung
- Unparteilichkeit im Konfliktfall
- Argumentation statt Meinungsinflation
- Ausgewogenheit, Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit
- Vertraulichkeit
Ist nun alles dahin nachdem wir wissen, dass unser Denkhirn eigentlich gar nichts zu melden hat? Was tun wir, wenn unsere Vernunft und unser Verstand zwar nach Sachlichkeit, Objektivität und Neutralität schreien – unser limbischer Zirkusdirektor dafür aber nur ein taubes Lächeln übrighat? Wir geben uns dieser Erkenntnis hin und überlegen uns, wie sich der Absolutheitsanspruch der oben genannten Kriterien auf ein Maß absenken lässt, welches wir mit den gewonnenen Erkenntnissen vertreten können. Mein Vorschlag: Wir lassen alles wie es ist und geben dem Qualitätsbegriff etwas mehr Handlungsspielraum und Elastizität.
Auf den Spuren von Qualität aus Deutschland
Schauen wir auf die Geburtsstätte von „Made in Germany“ , der produzierenden Industrie, finden wir gegebenenfalls wichtige Hinweise, was Qualität noch ausmachen könnte. Vielleicht steht und fällt ja alles mit einer kleinen Anpassung der Sichtweise.
Gute Qualität im Wertschöpfungsergebnis benötigt fachliche Expertise
Damit ein Produkt in hoher Qualität auf den Markt gebracht werden kann, dürfen in der zugrundeliegenden Konstruktion und Entwicklung keine Fehler passieren. Die Ingenieure müssen wissen, was sie tun. Das exakte Beschreiben der Produkt-, Produktions- und Prüfspezifikationen inklusive aller Abhängigkeiten ist entscheidend, damit Qualität „produziert“ werden kann. Hier sind tiefes Wissen und Weitsicht gefragt sowie das Verständnis um die Mechanismen von Ursache und Wirkung.
Der Hinweis für Qualitätsjournalismus: Wir sollten uns um eine Ausbildung bemühen, die nicht nur das Schreiben forciert, sondern auch den Inhalt, um den es sich drehen soll. Wer sich erlaubt, eine konkrete Meinung über etwas oder jemanden zu verbreiten, muss auch das fachliche Fundament besitzen, das einer qualifizierten Meinung zugrunde liegt. Qualitätsjournalismus sollte neben den oben beschriebenen sieben Eigenschaften auch berücksichtigen, dass ausgiebige Recherche und eine gute Schreibe allein noch nicht zwangsläufig dazu führen, die gefundenen Ergebnisse auch wirklich bewerten zu können. Man könnte auch mal jemanden „vom Fach“ fragen. Das tut den Zacken in der Krone keinen Abbruch.
Gute Qualität im Wertschöpfungsergebnis bedeutet, die subjektiven Bedürfnisse des Kunden zu erfüllen
Ein gut gemachtes Produkt, das niemanden interessiert, wird zum Rohrkrepierer – egal wie hoch die Güte ist.
Der Hinweis für Qualitätsjournalismus: Ein Text, der nur geschrieben wird, um das eigene Ego zu befriedigen oder eine Reaktion (egal welche) zu provozieren, geht denselben Weg – am Ziel vorbei. Qualitätsjournalismus sollte nicht nur investigativ hochkritisch und sprachlich geschliffen sein, sondern sich auch an den Bedürfnissen der Leserschaft ausrichten. Was geschieht, wenn dies nicht passiert, sehen wir im Negativen in den Auswüchsen der FAKE-NEWS-Wellen, die regelmäßig durch alle Mediengattungen schwappen. Positiv hingegen wehrt sich „die Leserschaft“, indem sie sich direkt an die Fachquelle wendet und den Journalisten einfach umgeht.
Gute Qualität im Erlebnis setzt Verantwortung voraus
Produkte mit hoher Sicherheitsrelevanz müssen sehr strenge gesetzliche Vorgaben erfüllen, um ihre Marktzulassung zu erhalten – sei es ein Sicherheitsgurt, ein Medikament oder ein Baugerüst. Hersteller, die sich dieser Verantwortung entziehen oder einen Fehler leisten, dürfen mit empfindlichen Strafen rechnen.
Der Hinweis für Qualitätsjournalismus: Ob wir am großen Rad der bundesweiten Tagesberichterstattung drehen, in kleineren Lokalredaktionen arbeiten oder für ein Fachmagazin schreiben – Menschen lesen unsere Beiträge und bilden sich daraufhin ihre Meinung. Damit wir diese Einflussnahme vor uns selbst rechtfertigen können, sollten wir nicht nur nach den Grundsätzen der journalistischen Berufsethik handeln. Wir sollten vor allem Verantwortung dafür übernehmen, dass wir nicht allwissend sind. Wir recherchieren akribisch und vielfältig, sind bemüht um eine objektive Haltung und sachliche Berichterstattung, und doch… Haben wir die Weisheit nicht gepachtet. Und es gibt immer Menschen, die anders über eine Sache denken als wir, selbst wenn wir alle dieselbe Informationsbasis besitzen. Es gibt einfach unter uns vernunftbegabten Tieren keine absolute Wahrheit.
Die Mütter und Väter unter uns wissen, wie schnell wir die Kleinsten der Gesellschaft manipulieren: Ein unbedachtes Wort („Hör endlich auf zu plärren“ oder „böse Krötenwörter“ im Auto) oder eine unreflektierte Handlungsweise (Das Messer im Mund abschlecken, bei Rot über die Ampel gehen, weil man es eilig hat) reichen aus, um Kinder nachhaltig zu beeinflussen. Wäre es nicht schön, wenn wir uns dieser Einflussnahme im schreibenden Alltag bewusst wären?
Menschen mit großer Einflussnahme sollen vor allem eines sein: bescheiden und umsichtig.
In diesem Sinn
Herzliche Grüße
Monika Nyendick