Die Welt sagt uns immer wieder, dass wir keine Zeit verlieren dürfen. Deshalb muss alles schnell gehen. Frühstücken, Kaffee trinken, Zeitung lesen, Leben, Lieben, Sterben.
Ein Leben in 140 Zeichen also. Das wäre das neue Ideal. Das wäre perfekt. Ein Twitter-Leben, ach wie herrlich! Es gibt nur ein Problem: Das Gehirn liebt Geschichten. Ein Gehirn ohne Geschichten wäre wie die Sahara. Oder wie die neuste Episode von „The Walking Dead“, dieser blutigen Zombie-Serie. Ohne Geschichten würden wir alle zu Zombies werden und das ganz ohne Virus oder apokalyptische Katastrophe. Aber ein Gehirn ohne Geschichten wäre eine Katastrophe. Aus diesem Grund ist das hier ein Pamphlet, nein, ein Plädoyer, nein, eine Anti-Twitter-Leben-Lesen-Haltung.
Gehirn liebt Geschichte. Ob Film, Hörbuch, Theaterstück, Fernsehen, Roman. Seien wir mal ehrlich, würde Telekom nicht weniger Handys verkaufen, ohne diese berührende Mann-im-Tutu-Geschichte? Würde Apple noch genauso erfolgreich sein, ohne seine verdammt guten Everything-is-connected-Werbespots? Genial unterlegt mit berührenden Bildern und Musik. Wir kennen diese Werbespots alle und sie alle erzählen eine Geschichte. Eine Geschichte hat viele Formen, über Bilder, über Musik, über Texte. Hauptsache sie ist gut komponiert wie eine Partitur von dem verdammten Beethoven. Wir beginnen den Tag mit einer Geschichte und wir beenden ihn mit einer Geschichte, wenn wir beispielsweise unserem Partner oder unserem Kind im Bett vom Tag erzählen oder das Märchenbuch aufschlagen. Wir können die Welt zu einem leeren, weißen Blatt Papier machen, wir können sie zu einem 140-Zeichen-Ort machen – oder aber wir können ihr all das lassen, was sie atmen lässt.
Das Nimmerland, das Wunderland, der Zauberer von Oz, all die Disney-Tolkin-Gebrüder-Grimm-Welten. Wir können Gegenstände Gegenstände und Menschen leere Räume sein lassen. Wir können schnell essen und schnell vergessen ein Leben in 140 Zeichen eben. Oder aber wir nehmen uns die Zeit. Die Zeit hinzuhören, die Zeit in sich zu hören, die Zeit zu stehen, die Zeit zu sitzen, die Zeit zu lesen, die Zeit wirken zu lassen.
Einen Disney-Film zu gucken, ein Musikstück bis zum Ende und darüber hinaus zu hören. Ein Buch zu lesen. Einen Roman zu schreiben. Ja, warum nicht einen Roman schreiben? Wir sollten alle einen Roman schreiben. Wir sollten alle nicht nur ein Bild, nicht nur eine Zeile sein lassen, was sie sind, sondern der Anfang einer ganzen Kette – einer Story. Einer Geschichte eben.
Ja, wir leben in einer Gesellschaft des radikalen Verdichtens – des 140-Zeichen-Setzens und es ist auch nichts Falsches daran, mit der Sprache aufzuräumen und sie von unnötigen Blabla zu befreien, von stumpfsinnigem Geschwätz. Aber „Verdichten“ bedeutet nicht, den Mut und die Fantasie des Geschichtenerzählens zu verlieren. „Verdichten“ bedeutet, dies zu bewahren und zu verbessern. 140 Zeichen können reichen, sie können fantastisch sein.
Richtig gefüllt.
Mit Herz.
Mit Verstand.
Mit Seele.
Mit Geschichte.
Emmanuel Losch ist ausgebildeter Regisseur. Er hat bereits Erfahrungen als Autor für Theater und Film gesammelt und unterstützt seit März 2014 die Projekt:Agentur und ProzessPiraten beim Entwickeln kreativer Texte und Ideen. Als Gastautor bei blog’n’relations schreibt er ab sofort über Storytelling und so gut wie alles, was damit zusammenhängt.