');

Was wäre, wenn Dienstag einfach mal Montag ist?

Wenn der Wecker morgens klingelt, haben viele Menschen – mich eingeschlossen – das gleiche Ritual. Sie gehen die Aufgaben des anbrechenden Tages durch und fragen sich dabei, ob er wohl besser oder gar schlechter wird als gestern. Manche bringen frühmorgens sogar das Kunststück fertig, die ganze Woche auf diese Weise im Kopf durchzugehen. Was erwartet mich wohl morgen? Wird mein Übermorgen wohl besser als mein Gestern? Nächste Woche wird sicher super, da hab ich Urlaub … Es kommt mir so vor, als würde mein Heutegefühl einen zeitlichen Bezug brauchen, damit ich es ordentlich auf meiner 0-10-Glückskurve einloggen kann. Warum eigentlich?

Warum kann ich nicht einfach im Heute sein? Haben wir wirklich so große Angst vor der kontextfreien Spontanität des Tages? Brauche ich denn eine Art Zeit-Kratzbaum, an dem sich mein Wohlbefinden ordentlich schubbern kann?

Ich wage einen Selbstversuch und mache meinen Dienstag zum Montag. Mal sehn, ob meine emotionale Wochenplanung Schluckauf bekommt und mir der Dienstag genauso gut gefällt, wenn ich mich nicht freuen kann, dass der Montag schon rum ist.

Der Mann in meinem Kopf
Manchmal beschleicht mich der Verdacht, es gäbe irgendwo in meinem Kopf einen Bibliothekar – einen runzligen, alten Mann, der meine Tage akribisch dokumentiert, damit ich mich ja an alles erinnere und nicht aus meiner eigenen Biografie falle. Doch damit nicht genug. Der Typ scheint auch irgendwie okkult zu sein, denn er trifft auf Basis seiner Notizen auch gleich Vorhersagen, wie meine Zukunft wohl aussehen wird. Er geht ganz offensichtlich davon aus, dass meine Herkunft maßgeblich für meine Zukunft verantwortlich ist … Ich war kein guter Schüler, also habe ich wenig Aussicht auf einen guten Job … Meine Eltern hatten eine harmonische Ehe, also habe ich beste Voraussetzung ebenfalls eine solche Beziehung zu führen … Man kann einen Menschen aus der Gosse holen, aber nicht die Gosse aus einem Menschen. Echt jetzt? Ist es wirklich so „einfach“ mit dem Schicksal? Ist meine Biografie schon geschrieben, noch bevor ich die Chance hatte, Pläne zu schmieden?

So komisch sich dieser Gedanke auch anfühlt, er scheint wohl durchaus Anhänger zu haben. Nehmen wir doch nur die vielen Business-Analysten, die auf Basis vergangener Daten die unternehmerischen Chancen und Risiken von Firmen, Branchen oder ganzen Volkswirtschaften vorhersagen. Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich das Bild vor Augen, ich säße in einem Auto mit zugeklebter Frontscheibe und ich könnte nur den Rückspiegel benutzen, um vorwärts zu fahren. Vielleicht sollten wir alle öfter John Lennon hören, denn er hinterließ uns die Botschaft: „Life is what happens to you while youre busy making other plans“.

Verlieren Menschen mit Gedächtnisverlust ihre Identität?
Aber Spaß beiseite. Wie viele Historiendaten brauche ich wohl, um mich selber als ICH zu fühlen? Ist meine Identität von meiner Biografie abhängig oder kann ich mich auch ohne permanenten Herkunfts-Schulterblick selber als vollständige Persönlichkeit wahrnehmen? Verliere ich mein Ich, wenn ich meiner Herkunft keine Bedeutung bemesse?

Es ist wohl keine Entweder-oder-Sache. Erfahrungen sind ein guter Ratgeber für die Zukunft. Sie prägen mich und meine Weltsicht und sind zugleich die Wurzel meines natürlich entwickelten Wertekosmos. Doch wie viel Selbstbestimmung ist mit unserem Bewusstseinsapparat dann möglich? Kann ich meine Zukunft selbst bestimmen und zum Beispiel die Sichtweise auf vergangene Erlebnisse durch neue Blickwinkel verändern? Ein Freund sagte mal zu mir, sein Psychologe hätte ihm eröffnet, es sei nie zu spät, eine schöne Kindheit gehabt zu haben – das wäre nur eine Frage der Sichtweise. Aha. Klingt sperrig, aber irgendwie auch verheißungsvoll. Kann ich wirklich zum Sprung aus meiner vorgespurten Schicksalsloipe ansetzen und entgegen jeder Prognose einfach etwas ganz anderes tun? Wäre dies möglich, obläge es also meiner Entscheidung, was ich so in meinem Disterschen Erlebnisrucksack mit mir rumtrage. Wenn ich keine Lust habe, so zu sein wie ich bin, dann bin ich einfach jemand anderes.

Ich kann meine Biografie nicht ändern. Die Buchseiten meiner Vergangenheit sind vollgeschrieben. Dennoch kann ich sehr wohl entscheiden, wie mich diese Geschichten der Vergangenheit prägen, beeinflussen oder gar manipulieren. Im Ergebnis hieße das: Zukunft ist Herkunft und nicht Herkunft ist Zukunft. Oder nicht? Oder wie?

Ihr Adrian Dister

Adrian Dister

Adrian Dister ist Gründungsmitglied und Störenfried bei den ProzessPiraten. Als Gastautor bei blog’n’relations schreibt er über alles, was die Welt der Kommunikation bewegt. Dabei beschränkt er sich nicht auf bestimmte Themen, sondern liefert Ein- und Querblicke anhand seiner jahrelangen Branchenkenntnis.


Entdecke mehr von blog'n'relations

Subscribe to get the latest posts sent to your email.