Leseerfahrungen zwischen Profession und Konfession
Wer im öffentlichen Nah- oder Fernverkehr unterwegs ist, kennt das Bild: Ein Großteil der mitfahrenden Passagiere blickt mit gesenktem Kopf auf Smartphones und Tablets – chattend, lesend oder Videos schauend. Im aufmerksamkeitsfordernden Straßenverkehr ist derlei Gebaren als Fußgänger, Auto- oder Fahrradfahrer ja eher nicht angeraten, wie zahlreiche mehr oder wenig drastische Video-Clips im Netz zeigen. Als regelrechter Fremdkörper erscheint mittlerweile aber, wer an Haltestellen, in Bussen, Straßenbahnen oder Zügen eine großblättrige Papierzeitung oder ein Magazin in der Hand hält – von einem Buch ganz zu schweigen.
Als beruflicher und privater Mediennutzer kann ich manche Vorteile der digitalbasierten Informationsaufnahme schon nachvollziehen. Denn draußen erschwert Regen und Wind einem das Umblättern DIN-A1-großer Zeitungsbögen. Oder das Format der überregionalen Tageszeitung aus Frankfurt am Main benötigt mehr Armraum, als es im dichtgedrängten öffentlichen Berufsverkehr kommod erscheint. Ein dahinter steckender kluger Kopf bräuchte da Kraft in den Oberarmen und Durchsetzungsvermögen oder die Faltfertigkeiten eines angehenden Origami-Adepten. Oder eine Tageszeitung aus Zürich. Oder ein Buch bzw. Taschenbuch. Aber die sind mitunter schwerer und nehmen auch mehr Platz ein als ein Smartphone.
Zugegeben – digitales Seitenwischen ist in der Straßenbahn schon einfacher. Das ist auch der Grund, warum ich manche Zeitungen und Magazine mittlerweile auch digital abonniert habe. Ebenso erleichtert das Zoomen dem Agenturältesten auch die komfortable Lektüre seitenlanger Textgewitter erheblich. Und ich falle im öffentlichen Berufsverkehr weniger auf. Zu einem veganerähnlichen Verzicht auf Papier wird es bei mir aber nicht führen: Umblätterbedingtes Seitenrascheln wird auch weiterhin zuhause, im Café oder im Urlaub zu hören sein.
Der Grund: Im Gegensatz zur eher beruflich bedingten, dem prosaischen Broterwerb dienenden Informationsaufnahme in mobilen Situationen des Personentransports neige ich dazu, im privaten Umfeld das „Lesen“ ungleich emphatischer zu betrachten. Denn der Eindruck, Nachrichten, Artikel und Kommentar via Monitor aufzunehmen, reicht bei weitem nicht an die Erfahrungen der Lektüre von auf Papier bedruckten Worten und Sätzen heran. Woran das liegt? An Gewohnheit und Alter? Vermutlich ist der Grund meine unerschütterlichen Genusssucht – frei nach dem Motto: „Ich ernähre mich nicht, ich esse und trinke!“
Wichtige Stellen und Absätze in Büchern kennzeichne ich auch lieber mit Stift und Eselsohren als mit dem Setzen digitaler Lesemarken. Ebenso erinnern unwillkürliche Spuren wie Zigarettenbrand- und Rotweinflecke auf oder der Sand vom Strand auf Paros zwischen den Buchseiten an vergangene Phasen einsam durchwachter Lesenächte und heiterleichter Urlaubslektüre. Statt mit Fingerspitzen von Bildschirmseite zu -seite zu scrollen bzw. zu wischen, fasse ich Zeitungs- und Buchseiten lieber analog an. Sollte ich je dazu kommen, Joyce‘ Ulysses zu lesen, werde ich mich sicherlich nicht vor einem Monitor 1305 Seiten lang durch die Digitalausgabe kämpfen. Außerdem kann ich Bücher zuknallen oder bei Nichtgefallen in die Ecke werfen. Meinem Tablet würde das nicht gut tun. Und ich kann sie verpacken und verschenken, was mit einem E-Book-Abo nicht so haptisch und raumgreifend gelänge. Weitere Vorteile, die über den intelligiblen Gebrauch hinausreichen: Mit Zeitungen/Zeitschriften lassen sich nicht nicht nur Lebensmittel und Bio-Abfälle einwickeln, lästige Insekten manuell verscheuchen bzw. vernichten und Kamin- oder Lagerfeuer entzünden – in breit ausgefalteter Form dienen sie auch dem reinlichen Umtopfen größerer Topfpflanzen. Das kann kein Smartphone und kein Tablet.
Ich höre schon die Einwände: „Dafür kannst Du mit gedruckten Zeitungen, Magazinen und Büchern nicht telefonieren, simsen, chatten, im Internet surfen, Musik hören, Filme schauen usw.“ – „Ja“, antworte ich, „aber dafür habe ich ja ein Smartphone.“
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