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Für viele von uns ist das Wort „Pflicht“ kaum positiv besetzt. Privat denken wir dabei an Kehrwoche, Schwiegermutterbesuche oder Vorsorgeuntersuchungen. Im Business-Kontext vermeidet so mancher Entscheider die unternehmerische Pflicht, indem er diese kurzerhand in Rechte ummünzt. Machen wir eine Pflicht zum Recht, erscheint uns das Handeln wahlfreier und leichter. Wir können entscheiden, ob wir etwas tun oder nicht – ganz ohne schlechtes Gewissen. Doch macht diese Transformation immer Sinn? Bewusst getroffene Entscheidungen werden in unseren Breitengraden als Ausdruck des Selbstverständnisses wahrgenommen – gute Entscheidung, gutes Unternehmen. Schlechte Entscheidung, fragwürdige Chefetage. Wir sind angehalten, jede potenziell öffentlichkeitswirksame Entscheidung zu hinterfragen, sei sie auch noch so banal. Wie mühsam. Wäre es nicht sinnvoll, in unserer CI-Strategie ein Plätzchen für natürliches Pflichtgefühl zu reservieren, eine Art Plicht-Chromosom in unserer Unternehmens-DNA? Der Vorteil: Pflichterfüllung gehört per Definition zum guten Gesellschaftsston und ruft in den seltensten Fällen Erklärungsnot hervor.

Immer diese Entscheidungen

In meinem letzten Blogbeitrag habe ich davon erzählt, dass viele geimpfte Menschen längst überfällige Termine mittlerweile wieder in Angriff nehmen. Bei mir war es unlängst die Zahnreinigung. Und während ich im Wartezimmer meinem Bildungsstreben nachging, las ich in der „Alles für die Frau“ einen Artikel zu den wichtigsten Lebensweisheiten. Die ersten drei davon habe ich mir vergangenes Mal vorgenommen und nach ihrer Bedeutung für Mensch und Unternehmen gefahndet. Die nächste Lebensweisheit, die meinen Weg kreuzte, war: „Judgements are confessions of character“. Anders ausgedrückt: Taten sagen mehr als Worte. Sie sind die Beweisführung des zugrundeliegenden Charakters. Es scheint also jedem Menschen und jeder Firma dringend anzuraten, neben einem Pamphlet an Werten und Grundsätzen, den daraus resultierenden Maßnahmen ebenfalls achtsam zu begegnen. Es stellt sich jedoch die Frage, auf welche Weise wir das perfekte Set an Maßnahmen – jetzt einmal das Synonym für „sichtbare Entscheidungen“ – definieren, um unserem Wertekosmos das rechte Maß an Authentizität zu verleihen. Und das, ohne dabei in schnöde Effekthascherei abzurutschen. 

Die Einzigartigkeit von Steinobst

Ein guter Ausgangspunkt ist der erwähnte Charakter. Hier finden wir im Synonym-Duden Worte wie „Persönlichkeit“ und „Individualität“. Individualität gehört in unserer westlich zivilisierten Welt zum höchsten Gut menschlicher Existenz. Und da Unternehmen eine Ansammlung von Menschen darstellen und auch von solchen gelenkt werden, ist Individualität auch für Betriebe unabdingbar. Vergleichbar mit einem leckeren Stück Steinobst, ist sie der innere Kern eines Wesens. Die Essenz unseres Selbst, der wir stets treu ergeben sein sollten. Und noch etwas scheint für dieses Ich-Konzentrat besonders relevant: Es sollte einzigartig sein. Und hier steckt der Teufel im Abteil. So mancher setzt Individualität mit Einzigartigkeit gleich, nicht mit Persönlichkeit. Erweitern wir unseren Denkhorizont gen Osten, stoßen wir auf Kulturen, in denen diese Kombination deutlich weniger verdrahtet ist. So beschreibt etwa die Autorin Gish Jen die asiatische Kultur als deutlich flexibler. Natürlich haben die Menschen dort ebenfalls den Anspruch, als Individuen wahrgenommen zu werden. Doch sie nehmen es nicht so verteufelt ernst mit der Einzigartigkeit und sehen sich stets im Kontext MIT anderen – nicht GEGEN andere. Jen beschreibt das wie folgt: Natürlich sind Asiaten Individuen. Aber warum sollten sie eine große Sache daraus machen? 

Wehret den hungrigen Wurm

Haben wir Europäer nun ein Problem, weil wir offensichtlich eine große Sache draus machen? Ja, das könnte durchaus passieren. Die Krux liegt darin, dass wir unseren einzigartigen Charakter durch eine tägliche Flut an kleinen und großen Entscheidungen immer wieder unterstreichen. Das Recht auf (freie) Entscheidung ist in unserer Kultur somit ein hohes Gut. Viele Firmen – und auch manche Menschen – setzen sich enormem Stress aus, mit jeder Entscheidung die Corporate Identity zu unterstreichen. Man will sich schließlich von den anderen abheben! Große Konzerne beschäftigen dutzende Brand Manager, die dafür Sorge tragen, dass keine Entscheidung für eine Kommunikationsmaßnahme oder Eventteilnahme den unternehmerischen Steinobstkern gleichem einem fiesen Wurm durchlöchert.

Ein Recht auf unternehmerische Pflicht

Das Recht auf Wahlfreiheit und Individualität kann also in ernsthaften Stress ausarten. Deshalb nun eine Entspannungsübung: Stellen wir uns einmal zum Spaß vor es gäbe Unternehmensentscheidungen, die wir treffen, weil es unsere Pflicht ist, die damit verbundene Handlung auszuführen. Sie sind Ausdruck eines grundlegenden Pflichtgefühls und somit befreit von dem steten Anspruch, Ausdruck des Firmen-Selbst zu sein. Stellen wir uns weiter vor, wir hätten einen natürlichen Zugang zu Pflichtgefühl, wie wir ihn für unsere scheinbaren Rechte haben. Zugegeben, das ist vor allem für jüngere Generationen ein verwirrender Gedanke. Und doch ist er für viele Kulturen ganz normal. Wie würde das dann wohl aussehen? Ein Versuch: Firmen sehen es als ihr gutes Recht an, dank ihrer USPs als „Individuen“ wahrgenommen zu werden und sie haben gleichzeitig eine Art inneren Kompass, für nicht zu diskutierende unternehmerische Pflicht innerhalb ihrer zwischenmenschlichen oder beruflichen Gemeinschaft.

Wir kümmern uns, weil wir es können, nicht weil wir es wollen

Gish Jen bringt in diesem Kontext das Beispiel, „sich um älteren Menschen zu kümmern“. Menschen der westlichen Kultur wollen auch in diesem Bereich ihres Lebens das Gefühl haben, dass es Teil ihrer persönlichen Essenz – ihrer freien Wahl – ist. Und wenn nicht, geht die Omi einfach ins Heim. Menschen aus asiatischen Kulturen sagen hier: „Ich denke da gar nicht darüber nach. Es ist einfach meine Pflicht.“ Sie sausen los und kümmern sich.

Spannender Gedanke: Sie tun es, weil sie es können, nicht weil sie es wollen. Ohne Beifall, ohne Orden. Ohne öffentliche Belobigung. Und auf magische Weise ist das sehr befreiend. Würden wir unser Handeln in den Vordergrund stellen und weniger die dahinterliegende Wahlfreiheit, wären wir von der anthroposophischen Manier befreit, aus jedem Pups einen inneren Ausdruckstanz machen zu müssen. 

Krisen zeigen uns oftmals den richtigen Weg

Bleiben wir noch ein bisschen länger bei diesem Gedankenspiel, auch wenn das freiwillige Aufbürden und Ausüben von Pflichten schon etwas schwer im Magen liegt. Und doch: Mit dem richtigen Kontext, geht es von ganz allein. Ein schlimmes wie sprechendes Beispiel ist die aktuelle Flutkatastrophe. Menschen gehen als freiwillige Helfer in die Krisengebiete. Landwirte spenden Futter für die Tiere. Firmen spenden wie aus dem Nichts riesige Geldsummen oder transportieren Waschmaschinen, Kühlschränke, Sauger und andere wichtige Waren in die betroffenen Gemeinden. Warum? Weil es der menschlichen Natur entspricht, zu helfen. Sie können helfen, also tun sie es. Und diese Hilfsbereitschaft ist ein Beispiel für den natürlichen Zugang zu einer vermeintlichen Pflicht. Und: Solchen Handlungen jenseits der Corporate Identity-Agenda haben einen viel positiveren Kommunikationseffekt, als es unternehmerische Eurythmie je haben könnte.

Unternehmerische Pflicht: Bei uns selbst anfangen

Was ist also das Ergebnis: Es bisschen weniger aktive Selbstfindung, ein bisschen mehr intuitiven Zugang zu den „richtigen“ Handlungsweisen. Wie könnte so eine Marschroute für die unternehmerische Pflicht im Rahmen einer Identitätsfrage und dem daraus resultierenden Marketing- und PR-Plan wohl aussehen? Ein möglicher Ausgangspunkt zum Üben wären die eigenen vier Firmenwände – also bei der unternehmerischen Charta für das gemeinsame Miteinander. An dieser Stelle denke ich beim nächsten Blog weiter, sonst schreibe ich noch ein Buch. Haben Sie Ideen für mich? Ich freue mich über jeden Impuls. Derweil noch etwas Kurzweiliges für die Ohren.

VG
Monika Nyendick


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