Es gibt Ereignisse, die die Welt in ein Davor und ein Danach unterteilen, und bei denen jeder ganz genau weiß, wo er war oder was er zu diesem Zeitpunkt gemacht hat. Der Fall der Berliner Mauer gehört zweifellos in diese Kategorie. Was sich am späten Abend des 9. November 1989 zutrug, war jedoch im Laufe des Tages, nicht einmal am frühen Abend absehbar. Eine Kommunikationspanne und die Dynamik der Medien führten schließlich zur Öffnung der Grenze und zur Beendigung der deutschen Teilung, ohne die es das ehemalige Berliner Büro von Press’n‘Relations auch nie gegeben hätte – zumindest nicht an diesem Standort. Es ist auch eine Geschichte über die Macht der Medien. Aber der Reihe nach.
9. November 1989, kurz vor 19 Uhr
Im internationalen Pressezentrum in der Berlin Mohrenstraße plätschert die Pressekonferenz des Zentralkomitees (ZK) der DDR seit fast einer Stunde ereignislos dahin. Es ist erst die zweite Pressekonferenz ihrer Art in Ost-Berlin. Die Langeweile wird schlagartig durch eine große Unruhe abgelöst, als ein italienischer Journalist nach neuen Reisegesetzen fragt, die die DDR angeblich erlassen will, weil die fluchtartigen Ausreisen Tausender DDR-Bürger über Ungarn und die Tschechoslowakei nicht mehr tragbar sind. SED-Bezirkschef Günter Schabowski antwortet: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen, Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Schabowskis Aussage ist eher ein Gestammel. Der SED-Bezirkschef wirkt unvorbereitet und unkonzentriert. Er übersieht den Sperrvermerk auf dem Zettel und löst damit und mit dem zweiten Teil seiner Antwort, dass die Regelung „ab sofort“ und „unverzüglich“ in Kraft trete, eine Sensation aus.
9. November 1989, kurz nach 19 Uhr
Wenige Minuten nach der Pressekonferenz ist jedoch von der Tragweite noch nichts zu spüren. Der Sturm auf die Grenzöffnung setzt nicht, wie immer noch fälschlicherweise angenommen wird, als unmittelbare Reaktion auf Schabowskis Bekanntgabe der neuen Reiseregelung ein, sondern mit deutlich zeitlichem Abstand als Folge der Berichterstattung in den westlichen Medien. Keineswegs hatte Schabowski eine sofortige Grenzöffnung verkündet, sondern, dass Ausreisen aus der DDR Richtung Westen – ohne einen Anlass zu nennen – per Visum beantragt werden müssen. Die Betonung liegt auf „Beantragung“. Dennoch springen die Medien auf die Meldung auf. Sie interpretieren sehr viel hinein, weil sich Schabowski so schwammig geäußert hatte. Sie sind unter Druck: In den Zeitungsredaktionen steht der Redaktionsschluss kurz bevor; Schlagzeilen für den nächsten Morgen werden festgelegt. Für die Fernsehsender beginnt die Hauptnachrichtenzeit.
9. November 1989, 20 Uhr
Die Tagesschau beginnt mit der Meldung „DDR öffnet Grenze zur Bundesrepublik“. Die dpa meldet: „Die DDR-Grenze zur BRD und nach West-Berlin ist offen. Die DDR hat am Donnerstag die Grenzen zur Bundesrepublik und Westberlin geöffnet.“ Das ist sie jedoch keinesfalls. Alle Übergänge sind zu diesem Zeitpunkt noch geschlossen. Ausreisewillige Menschen an den Übergängen sind keine zu sehen. Die Straßen im Ostteil Berlins sind leer. Für eine Ausreise wird nach wie vor ein Reisepass benötigt, den fast nur Rentner haben und dessen Beantragung Wochen in Anspruch nimmt. Das ZK rechnet also frühestens in der Adventszeit mit einem erhöhten Reiseaufkommen. In der ARD läuft das DFB-Pokal-Achtelfinale zwischen dem VfB Stuttgart und dem FC Bayern München, das 12 Millionen Bundesbürger schauen, mich eingeschlossen. Aufgrund der verlängerten Tagesschau beginnt es später.
9. November 1989, 21 Uhr
Noch immer ist es vor den Grenzübergängen ruhig. Dennoch beginnt sich allmählich die Nachricht über die offene Grenze zu verbreiten. Dass eine Ausreise nur mit Reisepass und Visum möglich ist, findet in der Berichterstattung der westlichen Medien keine Erwähnung. Radio und Fernsehen wiederholen die Sensationsmeldung von der vermeintlich sofortigen Grenzöffnung. Immer mehr Menschen machen sich auf zu den Grenzübergängen. Etwa 1000 sind es um 21.30 Uhr. Sie wollen die im West-Fernsehen versprochene Reisefreiheit testen, müssen dann aber feststellen, dass die Schlagbäume unten sind. Vor allem am Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße steigt die Wut. Grenztruppen, Passkontrolleure und Volkspolizisten sind überfordert. Sie haben keine Befehle.
9. November 1989, 22.42 Uhr
Die Tagesthemen beginnen aufgrund des Pokal-Achtelfinales mit Verspätung. Hanns Joachim Friedrichs eröffnet die Sendung mit den Worten: „Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab. Aber heute darf man mal einen riskieren. Dieser 9. November ist ein historischer Tag. Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind.“ Doch diese Ansage von Friedrichs eilte den Ereignissen voraus. In einer Live-Schalte steht ARD-Korrespondent Robin Lautenbach in Berlin vor dem geschlossenen Übergang an der Invalidenstraße und berichtet von bereits geöffneten Übergängen. Die Botschaft: Reiseverkehr frei, Tore in der Mauer weit offen, völlig unkompliziert nach West-Berlin. Erst nach diesen Meldungen gab es für Zehntausende Menschen kein Halten mehr. Die Grenztruppen kapitulieren und öffnen unter dem Ansturm von Ost und West die Grenzen. Und wie in den West-Medien schon seit Stunden gemeldet, fällt in dieser Nacht die Mauer. Der Rest ist Geschichte.
35 Jahre später erinnern in der Hauptstadt noch immer Wachtürme, Mauerreste und doppelreihige Pflastersteine im Boden an den Verlauf des Grenzstreifens. Unser ehemaliges Büro in der Boyenstraße hätte sich auf der östlichen Seite befunden. Das nach dem Mauerfall errichtete Gebäude steht unweit des ehemaligen Grenzübergangs an der Bernauer Straße. Auf meinem täglichen Weg zur Arbeit bin ich mit dem Rad immer entlang des ehemaligen Todesstreifens gefahren. Nun kehre ich Anfang 2025 nach Berlin zurück, zwar nicht mehr in die Boyenstraße, aber nach wie vor in eine beeindruckende Stadt.
Übrigens: Der VfB Stuttgart hat das Achtelfinale gegen die großen Bayern am 9. November 1989 mit 3:0 gewonnen. Es ist der bis heute einzige Sieg im DFB-Pokal gegen die Münchener. Insofern hat dieser Tag für mich eine doppelte historische Bedeutung.
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