');

Blog_Beitrag_MaikeDas Tempo ihrer Schritte an den hektischen Technobeat aus den Kopfhörern angepasst, joggt Maya Richtung Busbahnhof. Ein Blick auf das Smartphone verrät ihr: gerade noch rechtzeitig. Um 16 Uhr trifft sie sich mit Paul, um mit ihm und seinem roten Auto nach Leipzig zu fahren. Rot ist eine gute Farbe, denkt sie sich und öffnet beherzt die Tür des einzigen Pkw auf dem Parkplatz, der diese Lackierung hat. Mit den Worten: „Du musst Paul sein?!“ lässt sie sich auf den Beifahrersitz fallen und streckt ihm die Hand entgegen.

„Ja. Ich bin Paul und du heißt in dem Fall Maya?“
„Stimmt genau“, entgegnet diese und beginnt in ihrer Tasche zu kramen.

***

Als sie auf der Landstraße angekommen sind, fischt Maya endlich das AUX-Kabel aus ihrem vergilbten Beutel, steckt es an ihr Handy und fragt Paul:
„Würde es dir etwas ausmachen, wenn wir ein bisschen meine Musik hören? Du hast doch einen AUX-Anschluss?!“
Der junge Mann beginnt zu grinsen und deutet mit seinem Kinn auf das alte Autoradio. Als sie den Kassettenrekorder entdeckt entfährt ihr ein Prusten und sie beginnt zu lachen.
„Aus welcher Zeit seid ihr denn entsprungen – du und dein Auto?“, kommentiert Maya ihren Lachanfall.
Wortlos grinsend blickt Paul Maya an und entgegnet: „Aus einem unbekannten Land, vor gar nicht allzu langer Zeit. Weißt du, ich mag alte Sachen nicht einfach nur. Ich wertschätze ihre Beständigkeit. Das Auto ist älter als ich und zudem auch zuverlässiger“, zwinkert Paul ihr zu und fährt fort: „Man spürt beim Fahren noch die Geschwindigkeit. Alte Gegenstände besitzen außerdem noch Charakter, es ist die pure Leidenschaft. Willst du übrigens einen Schluck von meiner Bluna?“
„Bluna?! Ich dachte das gäbe es schon längst nicht mehr …“, wundert sich Maya, wirft einen Blick auf die grüne Glasflasche im Getränkehalter und lehnt sich mit einem selbstgerechten Grinsen in ihren Sitz zurück: „Ist dir eigentlich bewusst, wie gezielt Marketingprofis Retrohipster wie dich umwerben?! Wer hätte zum Beispiel vor vierzig Jahren geglaubt, das 2015 noch viele Wohnungen mit Mustertapeten im 70er-Look geschmückt sind und sich eine Wählscheiben-Telefon-App fürs Smartphone tatsächlich verkauft?! Ich glaube, dass Menschen, die extrem der Vergangenheit nachtrauern, nicht bereit sind für die Zukunft. Besonders diese ‚Auf-Alt-Getrimmten’ Produkte finde ich fürchterlich. Wenn etwas neu ist, darf es doch auch danach aussehen!“

***

„So würde ich das nicht sehen“, entgegnet Paul. „Viele Produkte werden ja heute noch in ihrem ursprünglichen Design verkauft. Doch eine anno dazumal abgefüllte Limonade – nein, das wäre selbst mir zu viel. Da bin ich doch dankbar, dass einige wenige Firmen bewährte Produkte heute noch produzieren. Diese Ampelmännchen habe ich mir zum Beispiel extra bestellt, solche gab es früher noch nicht als Anhänger.“
„Ja. Die Ampelmännchen sind mir auch direkt aufgefallen. Erst letztens habe ich einen Artikel über die sogenannten ‚Ostalgiker’ gelesen. Das sind Menschen, die in überzogenem Maße an den Produkten der DDR festhalten und das Leben sowie ihre Erinnerungen durch eine rosarote Brille betrachten. In zahlreichen Ostalgie Shops lassen sich Produkte kaufen, die man aus Mauer-Zeiten kennt. Ich möchte nicht wissen, was der Herr Honecker zur gezielten Kommerzialisierung dieser Erinnerungen gesagt hätte …“, Maya lacht und blickt dann in Pauls Gesicht.
Etwas gekränkt starrt dieser auf die Fahrbahn. „So meinte ich das nicht … Hast du denn keine Gegenstände, mit denen du unmittelbar deine Kindheit in Verbindung bringst? Ein lang verloren geglaubter Geschmack deiner Lieblingslollis oder ein Lied, das dich in unbeschwerte Erinnerungen zurückversetzt? Es ist, wie an einen längst vergangenen Urlaub zu denken. Plötzlich findet man sich selbst an diesem ruhigen Ort, man riecht, fühlt und durchlebt das Erlebte, in all seinen Facetten aufs Neue. Und in der Realität wieder angekommen, hat man dann sogar ein Mitbringsel dabei – das Glücksgefühl. Ich bin eben bekennender Nostalgiker.“
„Da muss ich dir Recht geben. Jeder kramt gern in Erinnerungen. Aber ab wann wird das eigentlich als Nostalgie bezeichnet?“ Ohne auf eine Antwort von Paul zu warten, zückt Maya ihr Handy und hat auch schon den Wikipedia Artikel auf dem Bildschirm.
„Das Wort Nostalgie leitet sich ab von den griechischen Wörtern νόστος, nóstos (Rückkehr, Heimkehr) und άλγος, álgos (Schmerz) sowie dem nostalgia (Heimweh) im Neu-“

***

„Woher kommt der Rauch!?“, unterbricht Paul sie erschrocken. Als Maya den Blick hebt fällt auch ihr auf, dass graue Rauchschwaden aus dem Motorraum aufsteigen und gerade als Paul den alten VW-Käfer an den Straßenrand gelenkt hat, geht das Licht aus. Wenige Sekunden später folgt der Motor. Wie versteinert bleibt der junge Mann sitzen. Die Hände um das Lenkrad geklammert und mit offenem Mund starrt er in die Dämmerung. Ein enttäuschtes „Na toll!“ entfährt Maya und nachdem sie weitere fünf Minuten in ihr Smartphone vertieft war, schnallt sie sich schließlich ab, steigt aus dem Wagen und zieht ihre Strumpfhose aus.
Pauls Unterkiefer sackt noch ein wenig weiter Richtung Erdmittelpunkt, ehe er ungläubig fragt: „Und was soll das nun?“
Mit einem provokanten Lächeln wirft Maya ihre Strumpfhose auf die Motorhaube. Paul steigt aus und ist geblendet vom Display des Handys, das sie ihm nun direkt vor die Nase hält. Nur langsam gewöhnen sich seine Augen an das grelle Licht, doch dann beginnen die Buchstaben Worte zu formen und er liest: „Strumpfhose als Keilriemenersatz.“ Als ihm klar wird, was Maya da vor hat, ist er beeindruckt und gemeinsam machen sie sich an die Aufgabe.

***

Eine Stunde später kommen Paul, Maya und das rote Auto mit vier ölverschmierten Händen mehr und einer Strumpfhose weniger auf dem Parkplatz am Hauptbahnhof Leipzig an. „Ich hätte nicht gedacht mit deiner Klapperkiste bis nach Leipzig zu kommen“, gesteht Maya.
Obwohl ihm der Begriff „Klapperkiste“ zwar nicht wirklich gefällt, fügt Paul scherzend hinzu: „Dein smartes Telefon war auch nicht ganz nutzlos in dieser Hinsicht.“
Der Weg trennt sich nun für beide, aber eines verbindet sie ab jetzt miteinander: Die Erinnerung an eine gemeinsam erlebte Gegenwart.

 

Lena Nerb + Maike Skerstins – Praktikanten