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„Ich will von Euch eine Kombination aus technisch sauber geschlagenen Häken sehen“, forderte mein Boxtrainer letztens. Der kreative Pluralis brachte mich an jenem Abend mehr aus dem Gleichgewicht als mancher Hieb oder Tritt meiner Mitstreiter. Und die sind nicht zimperlich; ohne mit der Wimper zu zucken könnten die meisten bei ihrem Gegner einen Exitus herbeiführen, bei mehreren Angreifern gar mehrere Exitusse oder Exiteen (wie bei Kakteen)? Sagen wir einfach Todesfälle, denn Exitus ist ein Substantiv, das nur im Singular vorkommt: ein Singularetantum. Davon lautet die Mehrzahl wiederum Singulariatantum oder Singularetantums. In Anbetracht dieses Tohuwabohus wird jäh klar, warum sich Journalisten in die Berufsgruppen mit der geringsten Lebenserwartung einreihen: Von wegen hoher Suchtmittelkonsum, der wahre Grund für ein vorzeitiges Verscheiden ist das kräftezehrende Grammatik-Chaos. (Das – Gott sei Dank – keinen Plural kennt.)

Das Plural-Kuriositäten-Inferno hat mich schon früh geprägt. In jungen Jahren jobbte ich in einer Boutique. Eine Kundin fragte: „Führen Sie Schäle?“ Ein anderes Geschäft bot „schöne Sommer-Puli´s“ an. Der Modebranche habe ich eilig den Rücken gekehrt und Zuflucht bei einer Fachzeitschrift für Sicherheitstechnik gesucht. Doch dort kam ich erst recht in die Bredouille. Meine Kollegen und ich haben uns der kühnsten Grammatikkonstruktionen bedient, um die Pluralform von Tunnel, nämlich Tunnels, elegant zu umschiffen – und der Begriff kommt in der Sicherheitsbranche leider häufig vor. Obgleich grammatisch richtig, empfinden viele das Wort Tunnels als befremdlich. Dabei geistern durch die Fachliteratur viel gruseligere Formen, die sensiblen Schreiberlingen das Fürchten lehren: zum Beispiel Milche, Stäube und Verbräuche. Doch der so genannte Sortenplural ist in den Fachmedien, die unsere Standorte in großer Zahl bedienen, unerlässlich. Er macht es uns und den Lesern leichter, zwischen Kuhmilch, Ziegenmilch sowie Wasser- und Stromverbrauch bzw. Grob- und Feinstaub zu unterscheiden.

Den Gattungsnamen Milch, Staub und Verbrauch oktroyieren wir aus Verzweiflung einen Plural auf, anderen Wörtern, die ihn schon besitzen, gönnen wir ihn nicht, zum Beispiel „Kartoffel“. In ländlichen Gefilden Nordrhein-Westfalens finden sich häufig Schilder mit der Aufschrift: „Frische Kartoffel!“, ein Bauer drohte sogar mit der unheilvollen Botschaft „Letzte Kartoffel vor der Autobahn!“. Es würde mich nicht wundern, wenn sich auf besagter Autobahn Unfälle häufen und die Polizeiberichte Notizen aufweisen wie „Unfallverursacher weist Anzeichen retrograder Amnesie auf, ausgelöst durch ein traumatisches, grammatisches Ereignis“.

Gratin

„Kartoffel Gratin“ – aber hausgemacht

Es reicht anscheinend nicht, die Knollen ihres Plurals zu berauben, man martert sie mit weiteren orthografischen Folterzangen. Ein bekannter Nahrungsmittelhersteller vertreibt ein Trockenprodukt für die Zubereitung von „Kartoffel Gratin“. Es bleibt die Frage offen, welches Verbrechen schwerer wiegt: der Affront gegen die Rechtschreibung oder der Verkauf von Papiertütchen höchst fragwürdigen Inhalts. Wer partout kein schmackhaftes Kartoffelgericht zustande bringt, kann schließlich ein Restaurant aufsuchen. Dort empfiehlt der Chefkoch im Frühling „Junge Kartoffel mit Spargeln“.

Ein Wort zum Schluss oder lieber Schlusswörter? Zu allem Überfluss gibt es Wörter, die zwei Pluralformen mit unterschiedlicher Bedeutung haben, beispielsweise das Wort „Wort“. Während die Mehrzahl „Wörter“ Wörter als kleinste grammatische Einheit eines Satzes beschreiben, sind mit „Worten“ Redewendungen und Zitate gemeint. Deswegen sorgt August Wilhelm von Schlegel noch Jahrhunderte nach seiner Übersetzung von Shakespeares Hamlet für Verwirrung: Im Original antwortet der dänische Prinz auf Polonius Frage “What do you read, my lord?” lakonisch “Words, words, words.” In der deutschen Schlegel-Version lautet die Antwort nicht ganz logisch “Worte, Worte, Worte.” Warum die Übersetzung so ausgefallen ist, können wir nur raten. Uns Journalisten und PR-Redakteuren sollte es jedenfalls ein Anliegen sein, so gut wie möglich zu schreiben, damit wir uns nicht fragen lassen müssen: „Du wägest dein Gold und Silber ein, warum wägest du nicht auch deine Worte auf der Goldwaage? (Martin Luther).

P.S. Es bleibt nur zu hoffen, dass mein Trainer diesen Blog nicht liest. Mindestens zehn zusätzliche Burpees wären mir gewiss. Der Rest ist Schweigen.